Canisiuswerk
Portraits | Zeugnisse

Anderer Stil, dieselbe Kirche

 

 

„Rockerpriester“ Guy Gilbert ist ein französischer Geistlicher im Outfit eines Halbstarken. Gar nicht halbstark sind sein Einsatz für gestrandete Jugendliche und der Klartext, mit dem er das Evangelium verkündet.


Schulterlange graue Haare, eine abgewetzte Lederjacke, Cowboystiefeln, wuchtige Silberringe, liebt selbst gedrehte Zigaretten – und ist seit 57 Jahren Priester. Als der französische „Rockerpriester“ Guy Gilbert vor 19 Jahren beim Wiener kirchlichen Jugendevent „Key2Life“ auf die Bühne am Stephansplatz trat, wies er auf den in Kardinalspurpur gewandeten Wiener Erzbischof: „Christoph hat kein Problem damit“, dass er im Outfit eines Altrockers versucht, das Evangelium zu vermitteln. Unter Beifall der meist jungen Zuhörer sagte er: „Seht her: Wir haben nicht denselben Stil, aber es ist dieselbe Kirche!“


Der 86-Jährige blickt auf ein ungewöhnliches Priesterleben zurück. Seit einem halben Jahrhundert kümmert sich der Franzose um Straßenkinder, Drogenabhängige und jugendliche Straftäter. Im Algerien-Krieg wurde er parallel zum Militärdienst in Algier zum Priester ausgebildet und 1965 geweiht. 1970 kehrte er nach Frankreich zurück und fand bei den Jugendlichen im 19. Pariser Arrondissement seine Bestimmung.


„Priester der Halbstarken“
Für seine „Underdogs“ kaufte Gilbert 1974 in der Provence einen desolaten Bauernhof. Rund 250, meist gerichtlich zugewiesene junge Leute, beteiligten sich über die Jahre am Aufbau der Bergerie de Faucon. Sie halten sich an gesellschaftliche Grundregeln und betreuen Tiere: „Zootherapie“ mit Kühen, Hunden, aber auch Wildschweine, Strauße, Kängurus und Büffel helfen dabei, in ein „normales“ Leben zu finden. Gilbert selbst hat als drittes von 15 Kindern viel Liebe erfahren; etwas von diesem Rückhalt will er weitergeben: „Die Liebe Gottes gibt es auch für sie.“ Die Bergerie de Faucon, wo Gilbert seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie lebt, entwickelte sich zu einer Pilgerstätte.

 

Denn der „Priester der Halbstarken“ ist längst nicht mehr nur Ratgeber für schwierige Jugendliche, er ist in ganz Frankreich und darüber hinaus hoch angesehen. 2003 zelebrierte Gilbert bei der Hochzeit von Prinz Laurent von Belgien; 2005 ernannte ihn Präsident Chirac zum Ritter der Ehrenlegion; 2017 trauerte er in der Pariser Kirche La Madeleine in seiner Lederkluft um die Rock-Legende Johnny Hallyday. Bereits davor empfing ihn der ein Jahr jüngere Franziskus zum 80er. Auf den argentinischen Papst hält er große Stücke: Denn er segne die Bettler und Obdachlosen auf dem Petersplatz nicht nur, sondern habe für sie auch Duschen und Toiletten aufgestellt, lobte Gilbert.


„Glaube ohne Werke ist Katzenpisse“
Der Autor von 46 Büchern, „La Croix“-Kolumnist und „Radio Notre-Dame“-Mitarbeiter spricht Klartext, wenn es um praktiziertes Christentum geht: „Glaube ohne Werke ist Katzenpisse!“, sagt er. Die Kirche rede von der Liebe zu den Bedürftigen. „Aber wenn sie diese Liebe nicht lebt, dann soll sie die Klappe halten.“ Gegenüber der Politik nimmt er sich kein Blatt vor den Mund: Der Priester, der in Algerien Arabisch lernte, las dem xenophoben Rechtspopulisten Éric Zemmour bei der Präsidentschaftswahl 2022 die Leviten. „Konservativ“ ist Gilbert bei den Themen Abtreibung und Euthanasie, er beteiligte sich am Marsch für das Leben in Paris, lehnt die Scheidung ab.


Immer wieder erzählt er in Medienauftritten von seinen Jugendlichen, die auf der Straße oder im Gefängnis leben, weil sie teils schon als 13-Jährige gestohlen, vergewaltigt oder sogar gemordet haben. Momente und Begegnungen, die Guy Gilbert in seinem unermüdlichen Engagement bereichern. Zu einem der Silberringe an seiner Hand hat Gilbert eine besondere Geschichte: Eines Nachts habe er einen Burschen auf der Straße getroffen und ihm geholfen, seine Mutter wiederzufinden, eine Prostituierte. Später habe dieser ihm den Ring gegeben: „Trag ihn bis an dein Lebensende.“ Das tue er – aus Solidarität mit allen Jugendlichen, für die er da ist.


Auf seiner Website guygilbert.net erwähnt der Priester einen Text, den er für sein Buch „Ein Priester unter den Hooligans“ (1978) verfasst hat und seit 47 Jahren zu leben versuche: „Mitten unter ihnen, mit ihnen, als wilder Priester ohne christliche Gemeinschaft, aber von der Kirche gesandt, ... Priester für ein Volk, das es nicht erwartet, ... Zeuge von Gerechtigkeit und Liebe. Mit allen Menschen guten Willens, die verstanden haben, dass diese jungen Menschen, die wir abgelehnt haben, den Blick eines wahren Bruders brauchen, um aufrecht und frei leben zu können. Das bedeutet es für mich, im Herzen der Kirche mein Priestertum zu leben.“

 

Von Robert Mitscha-Eibl

CANISIUSWERK
Zentrum für geistliche Berufe

Stephansplatz 6
1010 Wien

Telefon: +43 1 516 11 1500
E-Mail: office@canisius.at
Darstellung: