• Ausgabe 10-11 / 2015

    AUFRUF ZUR BARMHERZIGKEIT

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Unsere Themen im Jahr 2015

Wenn die Welt aus den Fugen gerät...

Eine Generation, deren Kindheit in die NS-Zeit fiel, hat bei Fragen zur Aufarbeitung der Vergangenheit einen anderen Zugang als Nachgeborene.

 

Bei Schuleintritt hing das Bild vom Führer des Großdeutschen Reiches, Adolf Hitler, im Klassenzimmer. Am Ende des Jahres 1945 das des österreichischen Bundespräsidenten Karl Renner. Zuerst hieß unsere Heimat Ostmark, dann Österreich. Dazwischen lag ein Teil unserer Kindheit, in der wir schneller erwachsen wurden, als wir dies oft verkraften konnten. Wie alle Kinder haben auch wir Fragen gestellt und nicht immer bekamen wir eine Antwort – entweder weil es zu gefährlich war oder weil es einfach keine gab.

 

Ein Abschied ohne Antwort

Welche Antwort hätte mir mein Vater auch geben sollen, als ich im Morgengrauen eines Jännertages 1942 fragte: „Warum gehst du fort? Warum weinst du?“ Er hätte auch Jahrzehnte später die Frage einer Möchtegern-Politikerin: „Was hatten deutsche Soldaten in Stalingrad zu suchen?“ nicht beantworten können. Welche Wahl gab es denn: Kriegsdienstverweigerung mit allen Konsequenzen oder hoffen, den Irrsinn doch zu überleben?

 

Im Dezember 1942 gab es für Tausende und auch für meinen Vater keine Hoffnung mehr. Streng verboten wurde mir die Frage, wohin mein Onkel, Vaters ältester Bruder, plötzlich verschwunden sei. Erst nach dem Krieg konnte ich das damalige Schweigen der Familie einordnen – es war Angst. Als christlichsozialer Gewerkschafter wurde mein Onkel im April 1938 verhaftet und mit dem ersten Transport in das KZ Dachau eingeliefert. Er überlebte und engagierte sich nach 1945 für die Zukunft des wiedererstandenen Österreichs.

 

Fragen über das erlittene Leid lehnte er ab, er wollte nicht erinnert werden. Während dieser Onkel die Fahrt ins KZ antrat, begrüßte sein Bruder in einem oberösterreichischen Marktflecken begeistert die neue Ära. Er trat aus der Kirche aus, aber dafür der NS-Partei bei und wurde Ortsgruppenleiter. Was ihn aber nicht hinderte, in Uniform bei der Liturgie der Kartage die Partie des Jesu zu singen. Ob er sich jemals gefragt hat, wie das zusammengepasst hat?

 

Der Krieg rückt näher

Als die Fliegerangriffe der Alliierten auf Wien zunahmen, wurde ich zu meinen Verwandten nach Oberösterreich geschickt. Nach der ersten Heimweh-Phase musste ich, das behütete Einzelkind, meinen Platz in der Gemeinschaft der Dorfkinder erkämpfen. Ob wir beim Deutschen Jungvolk sein wollten oder nicht, wurden wir gar nicht gefragt, da die Zugehörigkeit für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen verpflichtend war. Daneben bin ich aber auch wöchentlich in die Seelsorgestunde gegangen und am Sonntag in die Kirche, so wie alle anderen im Ort. Das scheint niemanden irritiert zu haben.

 

Der Krieg kam immer näher und die ersten Flüchtlingswellen rollten heran. Eine hochschwangere Frau mit kleiner Tochter fand bei uns Unterkunft. Eines Tages stand der Ehemann vor der Tür. Er war desertiert und suchte nun Unterschlupf. Ein sicheres Versteck bei Bauern wurde rasch ausfindig gemacht. Ich, eine sommersprossige Zehnjährige, sollte ihn dorthin bringen.

 

Gefragt wurde ich nicht, denn die Ansicht der Erwachsenen war: Mann mit Kind, das würde keinen Verdacht wecken. Es wurde mir eingeschärft, ja keine Fragen von Vorbeigehenden zu beantworten. Vor Wichtigkeit strotzend zog ich, Nichte des NSOrtgruppenleiters, mit einem desertierten Offizier der Deutschen Wehrmacht los. Er kam sicher in seinem Versteck und ich ebenso zu Hause an. Heute frage ich mich noch: Was wäre mit uns geschehen, wenn uns eine Militärstreife erwischt hätte?

 

Keine Zeit für Fragen

Der Krieg und die NS-Diktatur endeten im Mai 1945. Jetzt hätten auch wir, so die Nachgeborenen, Fragen stellen müssen. Haben wir auch, aber die Eltern- und Großelterngeneration hatte keine Zeit, sich mit Fragen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die ersten Monate nach Kriegsende ging es um das nackte Überleben und später um den Wiederaufbau einer aus den Fugen geratenen Welt. Auch die etwas älteren Freunde wehrten Fragen ab. Viele von ihnen wurden noch Opfer des NS-Irrsinns und haben Monate, oft Jahre ihrer Jugend dann in Gefangenschaft verbracht. Kaum einer wollte darüber Fragen beantworten.

 

Fassungslos waren wir, als wir durch Filme mit den Gräueltaten des NS-Regimes konfrontiert wurden. Davon haben wir nichts gewusst und die Erwachsenen, die etwas wussten, haben uns davor abgeschirmt. „Nie wieder“ sollte Menschen ihrer Abstammung oder Gesinnung wegen so etwas angetan werden: Das war der Vorsatz meiner Generation für die Zukunft. Für uns Heranwachsende tat sich auch plötzlich eine neue Welt auf. Uns wurde bewusst, welchen großen geistigen Nachholbedarf wir hatten. Erstmals wurden wir mit Weltliteratur und für unsere Ohren neuer Musik konfrontiert. Wir haben gierig aufgesogen, was uns an Kultur und Kunst geboten wurde. Später forderten der Aufbau unserer Existenz, Studium und Berufsweg, die Familiengründung alle unsere Kräfte. Für eine persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit blieb da kaum Zeit. Offiziell kam es bereits 1945 zur Verurteilung der NS-Verbrechen in Volksgerichtsprozessen und fand die Entnazifizierung aller NSDAP-Mitglieder statt. Die politischen Parteien holten sich später sogar einige prominente ehemalige Nazis als Mitarbeiter in ihr Team. Damit war auch für uns die Vergangenheit abgeschlossen.

 

Diese holte uns jedoch in den 1980er-Jahren wieder ein: Das damals beginnende Hinterfragen der Nachgeborenen war sicher notwendig, denn Verdrängtes wuchert im Verborgenen stetig weiter. Nur frage ich mich heute manchmal, ob durch die intensiv geführte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht die Gegenwart zu sehr aus dem Blickfeld geraten ist? Wieder werden Menschen wegen ihrer Rasse, Gesinnung und Religion verfolgt, vertrieben, gefoltert und getötet. Wieder werden Familien auseinandergerissen und lösen militärische Machtansprüche Kriege aus. Und die Welt schaut zu. Irgendwann werden Nachgeborene wieder die Frage stellen: Wie konntet ihr das zulassen? Habt ihr nicht gesagt „Nie wieder“? Für mich die deprimierende Schlussfolgerung dieses Gedenkjahres.

 

Ingeborg Schödl

 

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